Ausschnitt eines Briefs Vincents an Theo im Juli 1880 worin V. Stellung bezieht zu den Vorwürfen seiner Familie er sei ein Nichtstuer
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Denn es gibt Nichtstuer und Nichtstuer, von denen der eine das Gegenteil des anderen ist. Es gibt Nichtstuer aus Faulheit und Charakterschwäche, aus niedriger Veranlagung - du kannst, wenn du meinst, mich für so einen halten.
Dann gibt es den anderen Nichtstuer, den Nichtstuer wider Willen, der innerlich von einem heftigen Wunsch nach Tätigkeit verzehrt wird, der nichts tut, weil es ihm völlig unmöglich ist, etwas zu tun, weil er wie in einem Gefängnis sitzt, weil er nicht hat, was er braucht, um produktiv zu sein, weil es sein Missgeschick so gefügt hat, dass es mit ihm so weit gekommen ist; ein solcher Mensch weiß manchmal selbst nicht, was er tun könnte, aber er fühlt es instinktiv: Ich bin doch zu irgend etwas gut, ich habe eine Daseinsberechtigung! Ich weiß, dass ich ein ganz anderer Mensch sein könnte! Wozu könnte ich nur taugen, wozu könnte ich dienen! Es ist etwas in mir, was ist es nur!
Das ist ein ganz anderer Nichtstuer - du kannst, wenn du meinst, mich für so einen halten!
Ein Vogel im Käfig weiß im Frühling sehr wohl, dass es etwas gibt, wozu er taugt, weiß sehr wohl, dass er etwas zu tun hat, aber er kann es nicht tun, was ist es doch? Er kann sich nicht recht erinnern, dann kommen ihm unbestimmte Vorstellungen, er sagt sich, "die anderen bauen Nester und zeugen Junge und ziehen die Brut groß", dann prallt er mit dem Kopf an die Stäbe des Käfigs. Und der Käfig bleibt, und der Vogel ist wahnsinnig vor Schmerz.
"Seht den Nichtstuer", sagt ein anderer Vogel, der vorüberfliegt, "der ist eine Art Rentner." Aber der Gefangene lebt weiter und stirbt nicht; nichts von dem, was in seinem Innern vorgeht, ist äußerlich bemerkbar; es geht ihm gut, und bei Sonnenschein ist er mehr oder minder fröhlich. Aber dann kommt die Zeit, da die Zugvögel davonziehen. Ein Schwermutsanfall - aber er hat doch alles, was er braucht, sagen die Kinder, die ihn in seinem Käfig versorgen - doch er sieht den gewitterschweren Himmel draußen, und in seinem Innern fühlt er die Empörung gegen das Unglück. "Ich bin im Käfig, ich bin im Käfig, und es fehlt mir ja nichts, ihr Dummköpfe! Ich habe alles, was ich brauche! Ach, um Gottes willen, die Freiheit, ein Vogel sein wie andere Vögel!"
Ein solcher Menschen-Nichtstuer gleicht einem solchen Vogel-Nichtstuer.
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Onkel Cornelis Marinus van Gogh bestellte im März 1882 einige Federzeichnungen von Den Haag bei Vincent, wobei er V. Vorwürfe macht bzgl. "sein Brot verdienen"
Darauf antwortet Vincent:
Brot verdienen, wie meinst du das? Sich sein Brot verdienen oder sein Brot verdienen; sein Brot nicht verdienen, das heißt, seines Brotes nicht wert zu sein, das ist ein Verbrechen, denn jeder anständige Mensch ist sein Stück Brot wert - aber das andere, dass man es sich unseligerweise nicht verdienen kann, obwohl man es verdient, ah, das ist ein Unglück, und zwar ein großes Unglück. Wenn du mir da sagst: "Du bist dein Brot nicht wert", so finde ich, dass du mich beleidigst; aber wenn du mir gegenüber die einigermaßen zutreffende Bemerkung machst, dass ich es nicht immer verdiene, denn manchmal habe ich keins - gut; aber wozu diese Bemerkung machen, das nützt mir kaum etwas, wenn man es dabei bewenden lässt.
Ausschnitt eines Briefs Vincents an Theo im August 1883 worin V. eine realistische Bilanz zieht und eine hellsichtige Zukunftsvision gibt
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Nicht nur habe ich verhältnismäßig spät mit Zeichnen angefangen, sondern es kann leicht noch dazu kommen, dass ich nicht auf gar zu viele Lebensjahre mehr rechnen darf ...
Was nun die Zeitspanne betrifft, die ich noch zum Arbeiten vor mir habe, so glaube ich, ohne Voreiligkeit folgendes annehmen zu dürfen: Eine gewisse Anzahl von Jahren wird mein Korpus es quand bien même noch aushalten - eine gewisse Anzahl, sagen wir etwa zwischen sechs und zehn ...
Das ist die Zeitspanne, mit der ich fest rechne; wollte ich weiterhin etwas Bestimmtes über mich selbst aussagen, so käme mir das wie leeres Spekulieren vor, vor allem, weil es ja gerade von diesen ersten zehn Jahren abhängt, ob nach dieser Zeit noch etwas da sein wird oder nicht.
Verbraucht man sich zu sehr in diesen Jahren, so kommt man nicht über die Vierzig ...
Es ist nicht meine Absicht, mich zu schonen, auf Gemütsregungen und Schwierigkeiten viel Rücksicht zu nehmen - es ist mir ziemlich gleichgültig, ob ich länger oder kürzer lebe, überdies bin ich nicht dazu geeignet, mich in körperlichen Dingen so zu gängeln, wie es zum Beispiel ein Arzt bis zu einem gewissen Grade tun kann.
Ich lebe also weiter als ein Unwissender, der aber das eine weiß: Innerhalb einiger Jahre muss ich eine bestimmte Arbeit vollbringen; zu übereilen brauche ich mich nicht, denn das führt zu nichts Gutem - doch ich muss in aller Ruhe und Gelassenheit weiterarbeiten, so regelmäßig und gesammelt wie möglich, so kurz und bündig wie möglich; die Welt geht mich nur insofern etwas an, als ich sozusagen eine gewisse Schuld und Verpflichtung habe - weil ich nämlich dreißig Jahre lang auf dieser Welt herummarschiert bin -, aus Dankbarkeit ein bestimmtes Andenken in Form von Zeichen- und Malarbeit zu hinterlassen - nicht geschaffen, um dieser oder jener Richtung zu gefallen, sondern um ein aufrichtiges menschliches Gefühl zum Ausdruck zu bringen ...
In diesen paar Jahren muss etwas getan werden; dieser Gedanke ist mein Leitfaden, wenn ich Pläne für meine Arbeit mache. Ein gewisses Verlangen, alle Kraft daranzusetzen, wird dir nun um so verständlicher sein, gleichzeitig eine gewisse Entschlossenheit, mit einfachen Mitteln zu arbeiten. Und vielleicht kannst du auch verstehen, dass ich meine Studien nicht als etwas für sich betrachte, sondern immer das Werk als Ganzes im Sinn habe.
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